Was landet da in Binz im Warenkorb?
Folge 1: Weintrauben aus Indien – eine stille Reise um die halbe Welt
Beim Einkauf in einem Supermarkt in Binz fiel mir kürzlich eine Schale kernloser Weintrauben in die Hände. Preis: 1,99 €. Herkunft: Indien.
Ein kurzer Blick genügte, um innezuhalten. Warum werden Tafeltrauben ausgerechnet aus Indien importiert – in einem Monat, in dem europäische Ware fast erntereif ist? Und wie schafft es ein solches Produkt, nach Tausenden von Kilometern Transport und unter Beachtung aller Vorschriften, so günstig im Supermarktregal zu landen?
Eine kurze Recherche zeigt:
Indien ist heute einer der weltweit größten Exporteure von Tafeltrauben. Zwischen Januar und April wird dort auf großen Agrarflächen geerntet, vorwiegend in den Regionen Nashik und Maharashtra. Nach Sortierung und Verpackung in sogenannten „Pack Houses“ gelangen die Früchte per Kühlcontainer auf dem Seeweg nach Europa – ein logistischer Kraftakt, der gut drei Wochen dauert.
In Deutschland werden die Trauben dann über zentrale Lager verteilt und landen letztlich – wie in diesem Fall – in einem Supermarkt auf Rügen.
Dass ein solches Produkt für unter zwei Euro verkauft werden kann, hat nachvollziehbare Gründe:
– Die Produktionskosten in Indien sind extrem niedrig. Tagelöhne von 3–5 € sind nicht unüblich.
– Eingesetzte Pflanzenschutzmittel sind dort oft legal, bei uns aber verboten – Rückstände werden zwar geprüft, doch lückenlos ist das nicht.
– Die Seefracht in Großmengen ist effizient und günstig.
– Die Marge für Handel und Supermarkt bleibt trotz niedriger Verkaufspreise erhalten – auf Kosten derer, die am Anfang der Kette stehen.
Das neue Lieferkettengesetz verpflichtet Unternehmen zwar, menschenrechtliche Standards entlang ihrer direkten Lieferkette zu beachten. Doch genau da liegt das Problem: Der Begriff „direkt“ endet häufig beim europäischen Importeur. Die Bedingungen vor Ort – auf den Feldern, in den Verpackungshallen, bei den Arbeiterinnen – bleiben oft im Dunkeln.
Ich habe kein abschließendes Urteil. Aber die Frage bleibt:
Wollen wir wirklich Produkte kaufen, deren Herstellung und Weg wir kaum durchblicken – nur weil sie günstig sind?
Vielleicht lohnt sich der zweite Blick. Vielleicht lohnt sich auch die Frage:
braucht es im Juni in Binz wirklich Weintrauben aus Indien?
Diese kleine Beobachtung soll keine moralische Mahnung sein. Nur ein Anstoß zum Hinsehen. Und vielleicht der Beginn einer neuen Gewohnheit – beim Einkauf, beim Etikett lesen, beim Nachdenken über die Herkunft.
Wie kommt der Preis von 1,99 € zustande?
Stufe | Kostenanteil (pro kg) | Kommentar / Erläuterung |
Anbau & Ernte in Indien | 0,30 € | Niedrigste Stufe: Pflücklöhne 2–4 €/Tag, Großflächen |
Sortierung & Verpackung | 0,15 € | Packhäuser mit Standardisierung, Kühlung beginnt |
Inlandstransport + Zollformal. | 0,10 € | LKW zur Kühlverladung, Exportzertifikate, Frachtbrief |
Seefracht (Kühlcontainer) | 0,25 € | 20–25 Tage Transport über Suezkanal bis Hamburg |
Einfuhr / EU-Zoll / Kontrolle | 0,10 € | Rückstandskontrollen, Dokumentation, Verzollung |
Importeur / Großhandel | 0,40 € | Lagerhaltung, Umverpackung, Gewinnspanne (ca. 15–20 %) |
Logistik zum REWE-Zentrallager | 0,15 € | Umlagerung in nationale Ketten (per Kühl-LKW) |
Einstandspreis für REWE | 1,45 € | Einkaufspreis für Markt – vor Handelsspanne |
REWE-Marge + MwSt. | 0,54 € | 7 % MwSt. + Handelsmarge (~25–30 %) |
Ladenpreis (500 g-Schale) | 1,99 € | Endpreis – sichtbar für Kundschaft |
Fazit:
Was billig erscheint, ist oft nur günstig, weil andere den Preis längst bezahlt haben – nicht mit Geld, sondern mit Arbeitszeit, fehlender Absicherung oder ausbleibender Kontrolle.
Vielleicht ist das der richtige Moment, sich beim nächsten Griff zur Schale zu fragen: „Ist das wirklich der richtige Ort, an dem gespart werden muss?“
Quellen & Hintergrund:
- – UN Comtrade & Tridge.com – Statistische Daten zu Obstexporten
- – Fairtrade Deutschland – Berichte zur Lage von Landarbeitern in Indien
- – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit – Erläuterungen zum Lieferkettengesetz
- – Deutsche Welle, Süddeutsche Zeitung, Handelsblatt – Berichte zu Obstimporten & Rückständen
- – REWE Group Nachhaltigkeitsbericht 2023
- – Recherchen auf NGO-Seiten wie Oxfam, Brot für die Welt (Thema Agrarlöhne)
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